Eine Kurzfassung des 2. Horber Manifests wurde von den Teilnehmern als Resolution verabschiedet.
Horb a. Neckar, 23. November 1996
Am 22. November 1986 wurde auf den 4. Horber Schienen-Tagen einstimmig das "Horber Manifest" verabschiedet. Es rief eindringlich zu einer Reform der deutschen Bahnpolitik auf. Es wurde von über 40 Verbänden und Organisationen, darunter
mit weit über 200.000 Mitgliedern unterstützt und Verkehrspolitikern aller Parteien im Bundestag, in den Länderparlamenten sowie den zuständigen Ministerien in Bund und Ländern mit besonderen Schreiben eindringlich ans Herz gelegt. Zur allgemeinen Verbreitung wurde das "Horber Manifest" als Sonderdruck in der Zeitschrift "Schiene" veröffentlicht.
Es war nach 30 Jahren deutscher Verkehrspolitik für Straßenbau und Kraftverkehr der wohl deutlichste Appell, der je von den Horber Schienen-Tagen ausging. Es stellte fest, daß nach dem Bau von 500.000 km Straße in Deutschland und einer beispiellosen Förderung des Kraftverkehrs in Zukunft hierzulande kaum noch Platz für mehr Straßen und Autos, keine Erträglichkeit für noch mehr Unfallschäden und Unfallopfer, für noch mehr Schadstoffausstoß und Autolärm sei.
Es forderte deshalb ein völliges Umdenken in der Verkehrswegeinvestitionspolitik, eine Befreiung der durch Vernachlässigung und Abwanderung inzwischen hochverschuldeten Deutschen Bundesbahn von diesen Lasten. Es forderte ferner höchste Priorität für eine "Modernisierungs-offensive" des gesamten Bahnwesens. Hierzu wurde ein großange-legtes Modellvorhaben in Ostwestfalen als Versuchsfeld angeregt.
Eine heute angestellte Rückschau auf den Tag vor 10 Jahren ergibt folgendes:
Manches hat sich seitdem in der deutschen Bahnpolitik deutlich zum Besseren entwickelt:
Ist durch diese Schritte nach vorn der Konzern "Deutsche Bahn" nun das "Unternehmen Zukunft" geworden?
Kann sich der um einen umweltfreundlichen und gleichzeitig volkswirtschaftlich sinnvollen Verkehr besorgte Bürger in Deutschland nun zufrieden zurücklehnen? Wohl leider nicht!
Die in Horb versammelten, verkehrspolitsch engagierten Fachleute aus verschiedensten Berei-chen der Verkehrs- und Bahnszene stellen mit großer Besorgnis fest, daß die Bahnreform die entscheidende Wende in der Verkehrspolitik noch nicht gebracht hat und die zentrale Forderung des Horber Manifests auf Nachholung der Investitionen in die Neben-strecken noch nicht einmal ansatzweise in Gang gekommen ist. Hieran ändert diese oder jene Passage in dem neuen Rechtsvorschriftendschungel und auch in manchen Verlaut-barungen aus Politik und Regierung nichts.
Der entscheidende Mangel im Strickmuster der Bahnreform 93 liegt darin, daß die Parole "Mehr Verkehr auf die Schiene" eine Worthülse bleibt, wenn die entscheidenden Wettbewerbsnachteile der Schiene durch sie nicht beseitigt werden.
Die Bahnreform 1993 hat die finanzielle Benachteiligung der Schiene gegenüber dem Straßenverkehr nicht beseitigt.
Wir fordern deshalb eine Nachbesserung der Bahnreform in weiteren Gesetzgebungs- und Organisationsschritten, die endlich bewußt auf dieses Ziel ausgerichtet sind.
Zur Begründung hierfür machen wir auf Folgendes aufmerksam:
Der ständige Hinweis, daß heute für Züge in einwohnerschwachen Regionen einfach das Potential nicht vorhanden sei, stützt sich gegenwärtig auf die Beobachtung des heutigen Restverkehrs auf der Schiene. Er sieht die leeren Züge und übersieht, daß der Schienen-verkehr in Deutschland einen Marktanteil von nicht mehr als 10% am Gesamtverkehr hat. Die Stillegungsapostel, zur Zeit nicht mehr im kahlgeschlagenen Westen, sondern in den neuen Bundesländern aktiv, berücksichtigen in ihren Verkehrsprognosen neben Schüler-verkehren überwiegend nur den Verkehr, der heute noch auf der Schiene vorhanden ist. Um die Hälfte der Reisezeit beschleunigte Züge wären aber nicht nur um die Hälfte billiger, sondern würden mit Sicherheit beachtliche Verkehrsanteile auf die Schiene ziehen und damit eine Vervielfachung des Bahnverkehrs herbeiführen.
Die zentrale Forderung des Horber Manifests von 1986, nämlich der Modernisierung der am stärksten vernachlässigten Strecken erste Priorität in der Investitionspolitik zu geben, bleibt deshalb auch für die kommenden Jahre eine bisher nicht erfüllte, aber an erster Stelle stehende Forderung.
Eine Milliarde Mark zur Erhöhung der Geschwindigkeit auf einer wichtigen Strecke von 160 auf 200 km/h bringt nur einige Minuten Fahrzeitgewinn. Die gleiche Summe in die Modernisierung eines ganzen Nebenstreckennetzes investiert würde aber bei Erhöhung der Reisege-schwin-digkeit von 35 auf 70 km/h schon auf 35 km ein Vielfaches, nämlich eine halbe Stunde Verkür-zung der Reisezeit erbringen. Nicht nur eine einzelne Verbin-dung, sondern ein ganzer Verkehrs-raum würde davon profitieren. Je langsamer heute eine Strecke ist, desto größer ist der Fahrzeit-gewinn durch Modernisierungsmaßnahmen. Angesichts leerer Kassen müssen die wirksamsten Maßnahmen bevorzugt durchgeführt werden.
Damit sollen Großprojekte, wie die Projekte "Deutsche Einheit", "Schieneninfrastruktur der Bundeshauptstadt Berlin" und ähnliche nicht verteufelt werden, sie dürfen aber jährlich nur einen Teil der Investitionsmittel bekommen. Mindestens ein Drittel der Investitionen muß ausschließlich in die Sanierung der genannten Nebenstrecken fließen. Es darf nicht mehr vorkommen, daß 300.000,- DM für die technische Sicherung eines vielbefahrenen Nebenstrecken-Straßenüber-gangs wegen leerer Kassen nicht zur Verfügung gestellt werden, milliardenschwere Großprojekte aber unangetastet bleiben.
Es darf auch nicht vorkommen, daß 20% der für den Nahverkehr reservierten Mittel nicht in die Sanierung des Netzes in der Fläche sondern in Großprojekte auf Hauptstrecken gesteckt werden, wie das in letzter Zeit mehrfach geschehen ist. Ein ausreichender Anteil der Investitionsmittel muß nicht nur für den "Nahverkehr", sondern explizit für "Nebenstrecken", also die Zweig- und Stichstrecken festgeschrieben werden. Es stimmt zwar, daß auch auf den Hauptstrecken Nahver-kehr stattfindet, andererseits nutzt der Fernverkehr in Störungsfällen auch das Nahverkehrsnetz, ohne dazu einen finanziellen Beitrag zu leisten.
Die zweite zentrale Forderung an Gesetzgeber und Regierungen ist die Bereitstellung des Straßen- und Schienennetzes für jedermann zu gleichen Bedingungen.
Die Vorhaltung des Schienennetzes ist nicht eine unter Wettbewerbsgesichtspunkten zu leistende unternehmerische Aufgabe, sondern genauso wie die Vorhaltung des öffentlichen Straßennetzes eine "zum Wohle der Allgemeinheit" nach Art. 87a, 106 sowie 143a des Grundgesetzes vom Staat zu gewährleistende Daseinsvorsorge.
Wir fordern deshalb, das Unternehmen "Netz" im Konzern Deutsche Bahn aus diesem auszugliedern und die Schieneninfrastruktur genau wie das Straßennetz zu verwalten. Es muß jedem Eisenbahnbetriebsunternehmen zu vergleichbaren Kosten zur Verfügung stehen, wie es der Gemeingebrauch im Straßenverkehr vorsieht. Diese Forderungen gelten für das ganze noch bestehende Schienennetz, das zudem ergänzt werden muß.
Die Finanzierung hat nach den gleichen Grundsätzen wie beim Straßennetz durch Mineralöl-steuer, beim elektrischen Betrieb durch eine analog berechnete Energie-verbrauchssteuer, zu erfolgen. Auf keinen Fall haben hier die jeden fairen Wettbewerb zunichte machenden Trassen-preise etwas zu suchen. Diese sind vom Grundgedanken eines Wettbewerbs in der Verkehrs-wirtschaft her systemfremd und müssen verschwinden.
Wenn für Autobahnen eine spezielle Maut erhoben wird, dann kann ebenso für Schnellfahr-strecken, die das flächendeckende Bahnnetz für die Grundversorgung ergänzen, ein Trassen-preis verlangt werden. Dieser darf durchaus kostendeckend kalkuliert werden, die Gleichbehandlung von Schiene und Straße ist auch hier der gültige Maßstab des politisch korrekten Handelns.
Der Gesetzgeber muß jedoch unbedingt sicherstellen, daß die bisher stillgelegten Strecken durch eine gesetzliche Regelung in ihrer Trasse für die Zukunft gesichert bleiben und das Unternehmen "Liegenschaften der Bahn" sie deshalb nicht bei ihren Immobilienverkäufen angreifen oder zer-stören darf. Die bisherige Praxis des Verkaufs dieser Flächen ist ebenso wie die offenbar immer noch andauernde Aktion "RZ" zu beenden, weil sie die Kapazität des Streckennetzes, besonders auf eingleisigen Strecken, schon besorgniserregend vermindert hat.
Wann endlich wird sich in der Bundesrepublik eine demokratische Mehrheit diesen Erkenntnissen öffnen und in einer Weiterführung der Bahnreform dem weiteren Verfall des an sich technisch heute für die umweltfreundliche Bewältigung aller Verkehrs-aufgaben gerüsteten Schienen-verkehrssystems in Deutschland Einhalt gebieten?
Vielleicht kann in dieser Frage immer noch unsicheren Parlamentariern der folgende Hinweis die Entscheidung erleichtern:
Angesichts des im Westen Deutschlands in den vergangenen Jahrzehnten bereits arg verstüm-melten Bahnnetzes in der Fläche wurden in den letzten Jahren mit modernen Zugsystemen und dichten Taktfahrplänen Verkehre reaktiviert.
Einige in der Vergangenheit abgewirtschaftete Bahnstrecken wurden inzwischen mit Tatkraft und Kreativität wiederbelebt. Alle diese Versuche waren große Erfolge. Die daraus gewonnenen Erfahrungen sollten sofort überall umgesetzt werden.
Bei all diesen Versuchen wurden mindestens 40, manchmal sogar bis 500% zusätzliche Fahr-gäste gewonnen. Bei dem kombinierten System Straßenbahn/Vorortbahn in Karlsruhe wurde dieser Spitzenwert noch übertroffen, hier waren es bis zu 1000%, ebenso bei der Reorganisation des Stadtverkehrs in Saarbrücken. Auch die Dürener Kreisbahn und die Verkehrsgesellschaft Elbe-Weser in Bremervörde haben nie erwartete Zuwächse im Personen- und auch im Güter-verkehr erzielt.
Eine Nachbesserung der Bahnreform im Sinne der Thesen dieses 2. Horber Manifests vom 23.11.1996 könnte für Deutschland die umweltfreundliche Flächenbahn nicht mit geschlossenen, sondern mit überall an die richtigen Stellen verlegten und sogar noch vermehrten Zugangsstellen bringen. Bahnhöfe und Haltepunkte sind die Wahrzeichen der Kunden- und Bürgernähe des SPNV. Eine Zugkategorie muß auch auf schnellen Strecken überall dort im Takt halten, wo Menschen wohnen, Schnellverkehre brauchen dann nicht so häufig zu halten und können schneller bis zu den größeren Plätzen durchfahren.
Wenn die Forderungen dieses Mahnrufs schrittweise erfüllt werden, wird das deutsche Bahn-system nicht zu einem Konkurrenzunternehmen zur innerdeutschen Luftfahrt entarten, sondern sich zu einem vom Wettbewerb beflügelten, zum Wohl der Allgemeinheit wirkenden Rückgrat des Bodenverkehrs entwickeln.
Dieses Manifest steht zum herunterladen als pdf zur Verfügung:
2. Horber Manifest